Artikel

Ein außergewöhnlicher Mensch

Datum: 

13/08/2019

Quelle: 

Periódico Granma

Autor: 

Nur weil es um den Mann ging, über den wir an jenem Nachmittag im Mai sprechen würden, akzeptierte er interviewt zu werden. Es war vor kaum drei Monaten, als wir zu seinem Haus dort bei den Straßen H und 23 in Vedado kamen und spätestens als uns seine Tochter an der Tür begrüßte, wussten wir, dass der Gesundheitszustand von Roberto Fernández Retamar, einem der größten Intellektuellen Kubas, nicht gut war. Trotzdem empfing er uns, um mit uns seine Erinnerungen und Erlebnisse mit dem Führer der Kubanischen Revolution durchzugehen.
 
Das war keine Unterhaltung die von Sesseln aus mit einer Tasse Kaffee stattfand, sondern eine sehr intime, bei denen die Menschen ihr Herz öffnen, um alles zu geben und ganz aus der Tiefe die Worte hervorzuholen, von denen sie wollen, dass der Wind sie mit sich nimmt und sie wie in Stein gemeißelt bestehen bleiben. Dort, wo er von den letzten Träumen und von Schlaflosigkeit umfangen war, fanden wir Retamar, krank, umgeben von Büchern, aber klar wie immer.
 
„In wenigen Tagen werde ich 89 Jahre, ein Alter, das ich erreichen werde, wenn die Götter gnädig gestimmt sind, aber in der letzten Zeit sind viele Dinge geschehen“, war das erste, was er uns sagte. Und in den zwei Stunden seines Lebens, die wir ihm raubten, hörten wir ihm zu, wie er über Fidel sprach, auf den er zum ersten Mal an der Universität traf und über den Krieger, den Staatsmann und Intellektuellen, der im revolutionären Kampf geboren wurde und wuchs und der sich später in seinen Freund verwandelte.
 
In seinen 88 Jahren der Wissenschaften und der Kämpfe habe er, wie uns Retamar gestand, in vielen Ländern gelebt, gelehrt und gelernt, über 20 Bücher veröffentlicht, mit Hunderten von Personen gesprochen, aber nichts sei auch nur annähernd so bedeutsam gewesen, wie Fidel gekannt zu haben, „ein absolut außergewöhnliches Wesen, das für mich nur mit Simón Bolívar und mit José Martí, dieser gigantischen Triade unseres Kontinents vergleichbar ist“.
 
 
 
MIT DEM PEOFIL DES GRIECHISCHEN HELDEN
 
In Kuba war es die Zeit der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und die jungen Leute füllten die Stufen der Freitreppe, die Bänke und die Hörsäle der Universität. Das waren die Tage, an denen Retamar und jener zwanzigjährige Fidel sich am selben Ort aufhielten. „Da es zwischen uns beiden einen kleinen Altersunterschied gab, lernten wir uns innerhalb der Universität nicht kennen. Er studierte Jura, ich zunächst Architektur und später Philosophie und Literatur. Fidel war damals schon ein freier Student, d.h. er besuchte die Vorlesungen und Seminare nicht regelmäßig, sondern ging nur zu den Examen; deshalb sahen wir uns nur selten, aber wir sahen uns“.
 
Damals gehörten die beiden jungen Männer verschiedenen Organisationen an, wie dem Komitee 30. September, das vom Vorsitzenden der Juristischen Gesellschaft Baudilio Castellanos (Bilito)geleitet wurde, der später der Rechtsanwalt für die Angreifer der Moncada Kaserne werden sollte. Sie waren auch im Studentenverband FEU, in dem es einen Sektor gab, der sich im Komitee für die Demokratie in der Dominikanischen Republik für die Befreiung Santo Domingos aussprach.
 
„Deswegen beteiligte sich Fidel an dem was als Expedition von Cayo Confites bekannt wurde, die aber unglücklicherweise scheiterte. Trotz dieser Übereinstimmungen sagte Retamar, hätten sie sich aber nie richtig getroffen. „Wir haben nie von Angesicht zu Angesicht miteinander gesprochen, etwas, was ich sehr bedauere, aber, das ist etwas, das, wenn ich mich recht erinnere, bereits erzählt habe“.
 
Bei diesen Erzählungen erinnerte er sich an den Tag, an dem die Studenten die Universität von Havanna eingenommen hatten. „Ich weiß schon nicht mehr den Grund, ich nehme an, es ging darum, die Erhöhung der Fahrpreise zu verhindern oder etwas ähnliches. Sicher ist, dass wir über die Plaza Cadenas gingen und vor dem Gebäude, das damals die Naturwissenschaftliche Fakultät war, gab es eine Art Bühne, auf der die Studenten Theaterstücke aufführten und dort hob sich Fidel hervor.
 
„Er hat mich sehr beeindruckt, denn sein Profil war das der griechischen Helden, das von Achilles, jener, der in „La Edad de Oro“ oder der Ilias erscheint, und er begann zu sprechen: Compañeras und Compañeros und irgendwann sagte er: Es ist sehr heiß hier, deshalb fordere ich euch auf, dass wir zusammen zum Präsidentenpalast marschieren um dort Druck zu machen“. Ich war verblüfft, denn es war das erste Mal, dass ich Fidel reden hörte und er war wirklich ein außerordentlicher Redner, der die Masse mit sich zog“.
 
 
VOR ALLEM GUERILLERO
 
Danach im Strudel der Tage des Kampfes verlor Retamar diesen ungestümen jungen Mann aus den Augen. Aber im Verlauf der Jahre würde er ihn noch viele Male sehen. Eine dieser Gelegenheiten war ein Treffen des Comandante mit den kubanischen Intellektuellen im Juni 1961.
 
„Zufällig saß ich an der Seite, wo Fidel stand, um seine außerordentliche Rede zu halten, Worte, die noch immer eine Leitlinie darstellen. Es gab weitere Momente mit Fidel. Bei zwei Gelegenheiten lud er mich ein, ihn zur Amtsübernahme von lateinamerikanischen politischen Führern zu begleiten, einmal nach Brasilien und einmal nach Venezuela. In Brasilien erinnere ich mich besonders, wie brillant seine Ideen war, denn da hatte ein spanischer Politikaster mit Namen Felipe González zu dem Zeitpunkt des Debakels des sozialistischen Lagers gesagt, dass Kuba sich wie die anderen sozialistischen Länder nun verändern müsse, andernfalls würde es uns wie Numancia gehen – eine kleine spanische Stadt, die bis zum Tod gegen die Römer kämpfte, d.h. das was dieser Politikaster sagen wollte war, wenn wir nicht machen würden, was er uns vorschlug, würden sie uns alle umbringen.
 
„Dann sagte Fidel mit seiner ungeheuren Intelligenz und Belesenheit: „Nein, wenn wir es wie Numancia machen müssen, wird es uns eine Ehre sein Numancia zu sein, aber unsere Hoffnung ist, wie das spanische Volk zu sein, das Anfang des XIX. Jahrhunderts gegen die Truppen Napoleons kämpfte und sie besiegte. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, würden sie jetzt dort französisch sprechen.“ Mir bleib der Mund offen stehen.
 
Der Dichter hatte einen unerschöpflichen Vorrat an Anekdoten über den Comandante. Er erinnert sich jetzt daran, dass am Vorabend dieser Reise nach Brasilien, diejenigen, die den Comandante begleiteten, nicht bei ihm waren, sondern in einer mehr oder weniger bewachten Örtlichkeit und dort kam jemand hin, um ihm zu sagen: Fidel hat dich ernannt.
 
- Mich?
 
- Ja. Er hat gesagt: In der Delegation wird der kubanische Quijote mit uns gehen.
 
Von da an war Retamar immer der Quijote, er hat ihn niemals anders genannt.
 
 
„Einige Zeit später, traf sich Fidel im Haus von Armando Hart mit einer Reihe ausländischer Gäste. Auch Raúl war da und Fidel wandte sich an mich und sagte zu ihm: „Wie gefällt dir der kubanische Quijote, Raúl?“ Darauf sagte Raúl: „Nein, Fidel, er möchte nicht Quijote sein, er möchte Cervantes sein.“ Ich wusste nicht, dass Raúl so einfallsreich sein konnte und ab dann hat er immer Cervantes zu mir gesagt, niemals mehr Quijote.
 
Auf der Reise nach Venezuela sprachen wir über viele Dinge.
 
Eine Journalistin aus den USA stellte ihm eine Fangfrage und Fidel reagierte darauf, wie es die kubanischen Männer zu tun pflegen mit, etwas machohaft. Das ist, wie man weiß, für die Feministinnen fatal und für die Feministinnen aus den USA tödlich. Er sagte zu mir: „Wie gefiel dir mein Redebeitrag?“ . „Gut, Comandante, er schien mir gut, aber ich muss Ihnen sagen, dass die Journalistin Ihnen eine Falle stellte und sie haben auf die Frage so geantwortet wie ich es auch getan hätte, machohaft und er sagte nichts dazu. Und als der Dokufilm in Kuba gezeigt wurde, fehlte dieser Teil. Deswegen und aus vielen anderen Gründen mehr kann man sehen, dass Fidel sehr wohl Kritik und Kommentare akzeptierte, die nicht immer mit seiner Meinung übereinstimmten.
 
„Mehr als einmal sagte ich ihm: Sie sind nicht nur ein Guerillero, Sie sind ein Intellektueller. Und das war er natürlich, er war ein Intellektueller, aber es gefiel ihm nicht, wenn man das sagte. Da ging es ihm wie Martí, der auch lieber als Krieger als als Intellektueller angesehen wurde.
 
FIDEL WIRD VERMISST
 
Retamar ist ein alter Mann mit der Last der Zukunft. Sein Denken ist so klar, dass die Jahre es nicht wagen, die Gedanken zu trüben und er spricht, als ob die Zeit seinem Körper nichts antun könnte. Deswegen ist er im Besitz der wertvollsten Augenblicke. Wir hätten ihm gerne noch stundenlang zugehört, um auch von denen zu erfahren, die er deutlich in Erinnerung bewahrt, die Freundschaft zwischen Hugo Chávez und Fidel.
 
„Sie schienen Vater und Sohn, auch wenn, als Chávez geboren wurde, Fidel bereits im Gefängnis war, d.h. er gehörte einer jüngeren Generation an. Aber sie erreichten eine wirklich außergewöhnliche Identifizierung.
 
Chávez mochte Fidel sehr, er lernte viel von ihm, aber er hatte auch das Seine, er trug auch das Seine bei, er beschränkte sich nicht darauf zu bekommen, er gab auch. Das neue Venezuela, das bolivarische und chavistische Venezuela schuldet Fidel enorm viel, aber es schuldet auch Chávez, der wirklich viel geleistet und sein Tod war eine furchtbare Tragödie. Wir müssen Maduro und das venezolanische Volk mit all unserer Kraft unterstützen, aber der Verlust von Chávez war wirklich schrecklich“.
 
Das Leben ermöglichte es Retamar auch, Zeuge der Freundschaft zwischen dem Comandante und Che zu sein und auch der Zuneigung zwischen Raúl und Fidel. „Ich habe die Definition, die Aristoteles für die Freundschaft gab, für Che und Fidel angewandt und ich werde sie jetzt für Raúl und Fidel anwenden. Er sagte: „Die Freundschaft ist eine Seele, die in zwei Körpern lebt“, so war es bei Fidel und Raúl und so war es bei Fidel und Che.
 
Wenn man mich fragt, ob Fidel und Che miteinander stritten... Mann, ich bezweifle nicht, dass sie die eine oder andere Auseinandersetzung hatten, wir haben sie alle einmal gehabt, aber die Bindung zwischen Fidel und Raúl,zwischen Fidel und Che war unzerstörbar.“
 
- Und heute, da er nicht mehr hier ist, vermissen Sie Fidel?
 
„Ich vermisse ihn jeden Tag meines Lebens. Ich glaube, dass es in der Geschichte der Menschheit nicht viele Menschen wie Fidel gegeben hat, nicht nur was Kuba angeht, nicht was Amerika angeht, sondern in der ganzen Welt nicht.Man muss auf außergewöhnliche Menschen zurückgreifen, wie er wirklich einer war. Ich denke ständig an Fidel, wie ich an Che denke, wie ich an Martí denke. Menschen wie sie dürfen einfach nicht sterben, in gewisser Weise sterben sie auch niemals“.